Eingereicht von »Rems-Zeitung, Redaktion« am Samstag, 16. März 2013
Von Walter E. F. Krämer:Schwäbisch Gmünd. Astrid von Friesen — nach eigenem Bekunden einFlüchtlingskind in Westdeutschland — ist Diplom-Pädagogin,Psychotherapeutin, Publizistin und akademische Lehrerin an den UniversitätenFreiberg und Dresden. Das Multi-Talent entstammt einem 800 Jahre altensächsischen Adelsgeschlecht. Enteignung, Verfolgung und Vertreibungführten sie als Kind in den freien Teil Deutschlands. Damit entging sie demSchicksal vieler ihrer Verwandten, die ihrer adeligen Herkunft wegen ermordetwurden: Astrid von Friesens Urgroßvater starb in einem Lager auf Rügen vorden Augen ihrer Vettern und Cousinen einen qualvollen Hungertod. Die Kinderwaren damals zwischen einem und zwölf Jahren alt. Andere Verwandte kamenunter ähnlichen Umständen ums Leben. Astrid von Friesen war jetzt zu Gastbeim „Bischof-Neumann-Kreis“ der Ackermann-Gemeinde der DiözeseRottenburg-Stuttgart auf dem Rechberg in Schwäbisch Gmünd. Ihr Thema:„Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generationdeutscher Vertriebener, Flüchtlinge, Aussiedler und Verstoßener“.
Die systematische Ausrottung ostdeutscher Adeliger trat einer breiteren Öffentlichkeiterst nach Öffnung der sowjetischen Staatsarchive ins Bewusstsein. Folterung,Erschießung oder Verschleppung nach Sibirien zeichnete das Schicksal vonMenschen, deren Todesurteil ihr angeborener Name war. In zehn Sonderlagern derSowjets kamen bis
1950 von den rund
140 000 bis
176 000 Inhaftierten etwa
40000 Menschen an den direkten Folgen der Haft ums Leben.Astrid von Friesen weiß also nicht nur aus eigener leidvoller Erfahrung, sondern auchaus ihrer breit angelegten wissenschaftlichen Basis, wovon sie bei der Ackermann-Gemeinde spricht: Flucht und Vertreibung haben nicht nur bei der unmittelbarbetroffenen Erlebnisgeneration sichtbare und unsichtbare Spuren hinterlassen. IhreKinder (ab Jahrgang
1950) und sogar deren Kinder (die heutige dritte Generation)leiden unter den Folgen der Traumata ihrer Eltern. Die biblische Prophezeiung ´derVäter Sünden hat Nachwirkungen bis zur vierten Generation´ scheint sich zu erfüllen.„Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es für Millionen Menschen, die als Überlebendevor den Trümmern ihrer Existenz standen, keine Krisen-Interventions-Teams“, wieMichael Joachim Roos, Diözesan-Vorsitzender der der Ackermann-Gemeinde inseiner Einführung formulierte.Seite
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5Vertreibung und Flucht, das Unerhörte, Unaussprechliche wurden in der Folge nichtthematisiert, also auch nicht ausgesprochen, sondern verdrängt, also nichtverarbeitet. Es brannte sich dadurch unauslöschlich in die Seelen der Betroffenenein. Für viele Menschen bedeutete das eine zweite Pein: Psychische undpsychosomatische Erkrankungen, die Unfähigkeit die Last zu tragen, nicht seltenschien der Suizid dann der einzig gangbare Weg.Die „Zweite-Generations-Problematik“, eigentlich ein Begriff der Holocaust-Forschung, fand — gerade auch dank der Unterstützung israelischer Forscher –Eingang in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch bei der Untersuchung vonSpätfolgen der zweiten und dritten Generation in Vertriebenen-Familien. Erstmals, soerklärt Frau von Friesen, wird dieser Terminus damit im deutschen Bereichangewendet.Die Forschung beschäftigt sich mit der Frage, was in den Seelen der Kinder von
15Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen vorgeht, deren Eltern mehrheitlichan einem Trauma bedingten Stresssymptom litten. Eltern, deren Kraft im Alterschwindet, um den bisher mühsam aufrechterhaltenen Verdrängungszustand weiterhalten zu können und die so nach und nach von furchtbaren Erinnerungen eingeholtwerden.Frau von Friesen berichtet in diesem Zusammenhang von einem dementen altenMann, der kurz vor seinem Tode noch einmal drei Monate gegen die „Russenkämpfen musste“. Diese Re-Traumatisierung erlebt der Betroffene „so, als ob es imMoment passiert“.Die Eltern der zweiten Generation waren Nazis oder Mitläufern, Tätern oder Opfer,Kriegsgefangene, Vergewaltigte oder psychiatrisch Hospitalisierte,Widerstandskämpfer, Hungernde, Zerschossene, getötet habende oder selbstgetötete Soldaten.Viele Kinder waren Waisen, Vaterlose, Kinder aus Not-Ehen und Fehltritten,Ausgebombte, Umgesiedelte, Verwirrte und Geschockte. Was erfuhren sie von ihrenEltern über die — natürlicherweise idealisierten — „guten alten Zeiten“, was ausverschämten Andeutungen und Halbwahrheiten, was von den verleugnetenVerstrickungen im Faschismus?Seite
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5Was bewirkte die „überlastete Omnipotenz“ der alleinerziehenden Mütter, was dieverstört und kaputt heimkehrenden Väter? Männer, die freiwillig in den Krieg zogen,um ideologisch überzeugt und in Siegerpose „Lebensraum für das Deutsche Reich“zu erobern oder die als
18jährige Jungen unfreiwillig an die Front geworfen wurden.Menschen, die nach dem Krieg, in welchem sie ihren Kopf „für alle“ hinhielten,keineswegs als Helden willkommen geheißen wurden, sondern sich verschämt undgedemütigt in zerrissenen Zivilkleidern nach Hause schlichen. Die sich nunverzweifelt ob ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Niederlage oftmals inSarkasmen flüchteten, zu normalem Gefühlsempfinden unfähig waren, weil sie dasGrauen des tödliche Gemetzels in den Schützengräben und auf den Schlachtfelderndurchleben mussten.Die Folge: Eine „emotionalen Ertaubung“, wie von Friesen es nennt. Mit diesenDefiziten waren diese jungen Männer in ihren prägenden Jahren beschwert, unfähig,Familiensinn und Zärtlichkeit zu geben oder zu empfangen. Nach wie vor waren ihreSeelen gefangen im Erlebten: Brachiale Gewalt, vermeintliche Tötungsnotwendigkeit,der Kampf gegen monatelange Kälte von minus
30 Grad oder von Hitze und Durst inAfrika und von Hunger hinter der Front. Immer mit der quälenden Frage belastet,wenn monatelang Post aus der Heimat ausblieb, wie es der Familie zu Hauseergehen mag, ob die Frauen treu bleiben und ob die Bomben sie und die Kindervielleicht verletzt oder getötet haben könnten.Ein weiteres emotionales Defizit der Eltern aus dieser Erlebnis-Generation war inihrer Sozialisation im Faschismus begründet. Hass und Schwarz-Weiß-Denken wirdvon ihren Kindern unbewusst übernommen, wie von Friesen am Beispiel einerTochter von Sudeten-Deutschen berichtet. Sie war im Revanchismus ihrer Elternstehengeblieben und lebte einsam und isoliert. Freunde konnten in derWahrnehmungsstörung dieser Frau nur Sudetendeutsche sein. In diese freudloseIsolation waren ihre Söhne eingebunden.Kinder wuchsen so atmosphärisch geprägt auf in einer diffusen Gemengelage vonSchuld, Scham, Verzweiflung, Trauer, Sehnsucht und Wurzellosigkeit. Ihre Kindheitwar gespalten, einerseits idealisierte, sehnsuchtsvolle Erzählungen ihrer Eltern über„alte Zeiten“. Andererseits die harte Lebenswirklichkeit in Notunterkünften, inAbhängigkeit von West-Verwandten oder Fremden. In dieser Situation in den
50erund
60 er Jahren erfuhren Flüchtlinge häufig Ablehnung. Sie waren anders, sprachenanders, kochten anders. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen und wurden als„zusätzliche Esser“ diskreditiert. Denn: manche Gemeinden mussten beispielsweisein Schleswig-Holstein einen Flüchtlingszustrom von
50 Prozent der ursprünglichenEinwohnerzahl verkraften.Seite
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5Der Erste Weltkrieg kostete
1,
8 Millionen und der Zweite Weltkrieg
5,
25 Millionendeutscher Soldaten im „besten Mannesalter“ das Leben. Sie hinterließen jeweilsMillionen vaterverlassene Kinder. Wer selbst vaterlos aufwächst, so von FriesensFolgerung, und den eigenen Schmerz verdrängt, könne nicht empfinden, was esheißt, dass eigene Kind zu verlassen. In letzter Konsequenz werde Vaterlosigkeit vonden
70er Jahren an und auch teilweise heute noch als Ideal propagiert. Das führe zueiner Entwertung des männlichen Prinzips.Von Friesen sieht in der millionenfachen Vater-Entbehrung nach dem Ersten undZweiten Weltkrieg die Ursache der
30 Jahre später gelösten noch heute anhaltendenScheidungslawine. Bei Frauen habe die Abwehr des erlittenen Kinderschmerzes inTeilen der Frauenbewegung zu einer Werte-Umkehr des Vaterverlustes geführt:„Das Matriarchat hat im zwischenmenschlichen Bereich gesiegt: Kinder erlebenüberbordende, oftmals distanzlose Weiblichkeit bei ihren Müttern, im Kindergartenund in den Schulen, bei weiblichen Therapeuten und Ärzten. Wie soll sich bitteschönein Junge zurechtfinden, da er sich nicht mit Frauen identifizieren kann?“Eine weitere Spätfolge für Angehörige der Vertriebenen in der zweiten bis hin zurdritten Generation sind Depressionen. Wenn bei Eltern– oder Großelterngenerationein Besitz– oder Prestigeverlust auftrat, können ganze Familien erstarren. Ihr Blick istausschließlich nach rückwärtsgewandt. Alles Neue und alle Lebendigkeit mussdeshalb abgewehrt werden. Das kann, so von Friesen, bei der Enkel– oderUrenkelgeneration zu psychischen Erkrankungen und schlimmstenfalls zum Suizidführen.Generell sieht von Friesen bei Flüchtlingen und deren Kinder vierBewältigungsstrategien: Trotz — man kultiviert trotzig das Anderssein. Resignation –mit der Folge von Krankheit, Depression und Sucht. Revanchismus — die Flucht ineine illusionäre Vergangenheit, häufig gepaart mit Hass in die nachfolgendenGenerationen hinein und schließlich Überanpassung durch Leistung, um die innereScham zu kompensieren.Mit ihren Analysen der Spätfolgen, das zeigte sich bei der Rechberg-Tagung, trafAstrid von Friesen die Befindlichkeit der überwiegenden Zahl der Teilnehmer. Viele,selbst noch als Vertriebene der Ursprungs– oder Erlebnisgeneration angehörig,konnten die Sprechblockade über das Erlebte erst im späten Herbst ihres Lebensaktiv aufheben. Der Grund: Sie wurden von der heutigen dritten Generation, alsoihren Enkelkindern bedrängt, über das Geschehene noch zu Lebzeiten zu berichten.Seite
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5Professor Alf Brückner, Deutsch-Böhme, Jahrgang
1931, vertrieben
1946, hat seineGeschichte
2012 aufgeschrieben, nicht immer ganz freiwillig, wie er selbst einräumt,sondern von einem Weggefährten unter– und gestützt, wenn es vonnöten war.Brückner schilderte eindrücklich, wie die Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit ihn andie Grenze des Erträglichen brachten. Nach Abschluss seiner Aufzeichnungen, diealle Wunden wieder aufriss, verdüsterte sich seine Seele.Ein Besuch in der alten Heimat im Haus seines Vaters, des Zuckerbäckers, stellteseinen Versöhnungswillen und seine Bereitschaft, zur friedlichen Verständigung mitden tschechischen Nachbarn beizutragen, auf eine harte Probe: „Ach ja, derZuckerbäcker“, so wurde ihm beschieden, der „hat ´mal bei uns im Haus gewohnt“,meinten die neuen selbsternannten Eigentümer seit
1946…Inzwischen hat Brücknerdiesen Schock und auch die Folgen der Aufarbeitung seiner Geschichteüberwunden. Hilfe und Ermunterung fand er in „seiner Ackermann-Gemeinde“, wieschon
60 Jahre zuvor. Friedensdienst im kirchlichen, gesellschaftlichen undpolitischen Raum, das sind Brückner selbstverständliche Werte. Ganz im Geistedessen, „was uns die frohe Botschaft unseres Herrn Jesus Christus aufträgt“.
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